Die EU verstehen
Vier S-Wörter für Europa
In Europa hat sich seit fünfundsiebzig Jahren der bedeutendste politische Umbruch seit der Französischen Revolution von 1789 vollzogen – ohne Blutvergießen. Die Leistungen aller Kaiser und Könige in Europa seit Jahrhunderten verblassen vor der Einmaligkeit und der Zukunftswirkung der europäischen Einigung seit 1951, nur sechs Jahre nach dem Ende des Weltkriegs. Sie begann mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl[i], deren Gründerstaaten dann 1958 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gebildet haben, aus der schließlich 1993 die Europäische Union (EU) entstanden ist.
Aber warum wird
diese Staatengemeinschaft heute so wenig geschätzt und geachtet? Wie konnte es
dazu kommen, dass vor dem Zusammenbruch der EU gewarnt werden muss? Wenn die
Antwort darauf doch etwas einfacher wäre!
Um zu verstehen, warum im politischen
Geschehen der EU so Vieles unverständlich ist oder missverständlich erscheint,
kommt man um vier Begriffe nicht herum, mit denen man sich etwas näher befassen
muss:
Keine Angst: Was diese so gravitätisch und wissensschwer daher kommenden Begriffe, diese vier S-Wörter für Wirken und Wesen der EU und ebenso für ihr häufiges Scheitern bedeuten, ist recht leicht zu verstehen, wenn man sich die (wenige) Zeit nimmt, etwas über ihre Entstehung, ihre heutige Aktualität und ihr mitunter an Lächerlichkeit grenzendes Scheitern zu erfahren.
[i] EGKS, gegründet durch den „Vertrag
zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ mit einer
Laufzeit von 50 Jahren, unterzeichnet am 17. April 1951 von Belgien, der
Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden,
in Kraft getreten am 23 Juli 1952, ausgelaufen am 23. Juli 2002.
Der Versuch der europäischen Integration begann tatsächlich
bereits mit der Gründung des Europarates am 5. Mai 1949,
der bis heute besteht und 46
Mitgliedstaaten umfasst. Der Europarat hat jedoch nicht jenen
ausschlaggebenden Integrationsschritt vollzogen wie die EU,
nämlich im Gründungsvertrag bindende Mehrheitsbeschlüsse
zu vereinbaren.. Wichtige Aufgaben des Europarates sind Schutz der
Menschenrechte und die Völkerverständigung
Die Europäische Union (kurz: die EU) ist irgendwie
„falsch“ gegründet worden. Sie ist eines Tages einfach in Kraft getreten,
nämlich am 1. November 1993[1].
Juristen genügt das. Aber den meisten Unionsbürgern[2] ist
dieser Tag nicht in Erinnerung. Es fehlt der feierliche Akt einer
Staatsgründung. Warum? Weil die EU kein Staat ist. Was ist sie dann?
Sie ist ein eigenartiges und in der Welt bisher
einzigartiges[3] Gebilde. Sie verfügt über
Organe wie ein Staat: Sie hat ein Parlament, das von den Bürgern gewählt wird,
sie hat einen unabhängigen Gerichtshof und einen Rechnungshof, hat eine
Zentralbank und eine... – nein, sie hat keine Regierung und keine Hauptstadt.
Sie hat eigentlich keine Regierung, denn das von den Bürgern
gewählte Europäische Parlament (EP) wählt keinen Regierungschef, der dann, wie
in Deutschland, seine Regierung bildet, also die Minister ernennt. Vielmehr
setzen die Regierungen der Mitgliedstaaten gemeinsam eine Verwaltung ein, die
Europäische Kommission genannt wird und ihren Sitz in Brüssel hat – sie
residiert quasi zur Miete in einem Mitgliedstaat.
Die Gesetze in der EU werden tatsächlich noch von
den Regierungen der Mitgliedstaaten erlassen, gemeinsam mit dem Europäischen
Parlament. Aber auch das stimmt nur zum Teil, denn alle Text-Entwürfe für
Gesetze (Vorschläge genannt) müssen von der Kommission verfasst und dem EP
sowie dem Rat der nationalen Minister zur Beschlussfassung vorgelegt werden.
Die Kommission selbst ist daran nicht mehr entscheidend beteiligt. Es ist eben
alles ein bisschen anders und komplizierter in der EU als in einem Staat. Es
gibt in der Wissenschaft noch keinen Begriff dafür, welche Art von politischem
Gebilde die EU ist[4], denn sie ist bisher
einmalig in der Welt, es gibt in der Geschichte kein Beispiel dafür.
Viele Kritiker erkennen nicht an, dass die
Europäische Union nur begrenzt vergleichbar ist mit ihren Mitgliedern, den
Nationalstaaten, die im Laufe der Geschichte entstanden sind. Die Wissenschaft
hat bis heute noch kein theoretisches Gerüst geschaffen, an dessen Begriffen
das Tun und Lassen der EU zu messen und zu bewerten ist. Also wird die EU
einfach an dem gemessen und bewertet, was man hat und kennt: dem
Verfassungsrecht der Nationalstaaten mit seinen Wurzeln im 19. Jahrhundert.
Wenn der Apfel EU aber mit der Birne Nationalstaat verglichen wird, müssen
Missverständnisse entstehen.
Die EU von heute ist ein unfertiges Gebilde, ein
evolutionärer Prozess. Sie kann sich zu unterschiedlichen Zielen entwickeln: zu
einer immer engeren Union der Staaten, sogar zu einem Bundesstaat, aber auch
rückschreitend zu einer Freihandelszone, zur Auflösung der bereits erreichten
Strukturen.
[1] Mit Inkrafttreten des
Maastrichter Vertrages, der zweiten Änderung des Gründungsvertrages der EWG von
1957, der Vorläuferin der EU. Die EWG hatte bei ihrer Gründung sechs
Mitgliedstaaten, die EU zur Zeit des Inkrafttretens des Maastrichter Vertrags
15 und heute (2021) 27 Mitgliedstaaten
[2] Der Autor bittet um
Verständnis dafür, dass er durchgehend das generische Maskulinum verwendet,
also auf Formulierungen wie „Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“
verzichtet. Diese Bitte richtet sich verständlicherweise insbesondere an
weibliche Leser. Es soll nicht der Bevorzugung von Männern, sondern allein der
vereinfachten Lesbarkeit dienen
[3] Staatsrechtler sprechen
von einem Gebilde „sui generis“, also von eigener Art und Herkunft
[4] Das Bundesverfassungsgericht
in Karlsruhe hat dafür den Begriff „Staatenverbund“ geprägt, der Jurist Jan
Bergmann (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg) den Begriff „Integrationsverbund“
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Beispiel 1 Die Politik des leeren Stuhls
Beispiel 2 Wie der Ort Ioannina berühmt wurde
Beispiel 3 Das EP, die eigenartige Versammlung
Beispiel 4 Das Monster in Brüssel
TEIL 2 Was heißt Supranationalität?
Beispiel 1 Ist die EU nicht demokratisch ?
Beispiel 2 Hat „Brüssel“ eien Wasserkopf ?
TEIL 3 Das schwere S-Wort: Subsidiarität
Beispiel 1 Die Angst der Staaten vor dem Machtverlust
Beispiel 2 Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass
Fazit Subsidiarität
Beispiel 1 Der Euro, die eigenartige Währung
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