Teil 4
Was heißt Supranationalität
Beispiel 2
Hat „Brüssel“ einen Wasserkopf?
Unter den populär gewordenen
Kritiken an der Europäischen Union erhält diese besonders oft Applaus der Menge[1]: „Brüssel“,
also die Europäische Kommission, ist ein aufgeblähter Beamtenapparat, eine
riesige krakenhafte Bürokratie, kurz: Brüssel habe einen Wasserkopf.
Inzwischen kennt wohl jeder
Erwachsene in Europa dieses imposante Gebäude in Brüssel mit dem Namen
Berlaymont, wo die Kommission zuhause ist. Hier und an anderen Stellen in
Belgien und Luxemburg arbeiten 23.172 Leute auf Dauerplanstellen, hinzu kommen
406 Stellen mit Zeitverträgen (Stand 2020[2]). Außerdem
verwaltet die Kommission nahezu 40 Agenturen (z. B. Europol, Frontex, die
Arzneimittelagentur, die Agentur für Flugsicherheit, für Lebensmittelsicherheit
usw.). Alles in allem kommen so etwa 33.000 Beschäftigte zusammen. Ein riesiger
Apparat? Sie arbeiten immerhin für
450 Millionen Unionsbürger, das heißt, jeder EU-Bedienstete arbeitet für rund 15.000
EU-Bürger. Sind das zu viele Beamte?
Zur Rechtfertigung vergleichen
Wohlmeinende diese Zahlen gelegentlich mit dem Beamtenstand in deutschen
Großstädten. So beschäftigt die Stadtverwaltung von Köln bei einer
Einwohnerzahl von rund 1, 072 Millionen beispielsweise etwas mehr als 20.000
Bedienstete, also nahezu so viele wie die EU insgesamt. Solche Vergleiche sind
aber unzulässig und schief, weil Kommunen Aufgaben zu erfüllen haben, die in
der EU keine Rolle spielen, so zum Beispiel Lehrkräfte in Schulen, Feuerwehrleute,
Menschen bei der Müllabfuhr oder in Schwimmbädern und einiges mehr.
Dafür fallen bei der Verwaltung
der EU eine Reihe von Aufgaben an, die in Kommunen nicht zu finden sind, vor
allem dafür, Geschriebenes und Gesprochenes zu übersetzen oder zu dolmetschen.
In den 27 EU-Staaten sind insgesamt 24 verschiedene Sprachen als Amts- und
Arbeitssprachen anerkannt[3].
Jedes Schriftstück von Bedeutung wird in alle Amtssprachen übersetzt, das
ergibt im Jahr rund eine Million Seiten. Die Generaldirektion Übersetzung der
Kommission beschäftigt 2.161 Mitarbeiter, davon 1.480 für das Übersetzen, die
Generaldirektion Dolmetschen hat 793 Beschäftigte, davon 640 Dolmetscher (Stand
2019). Sie dolmetschen rund 11.000 Sitzungen pro Jahr.
Riesig ist die Bürokratie in
Brüssel also durchaus nicht, aber vielleicht teuer? Die ganze Kommission –
Personal, Verwaltung, Gebäude, Material, Delegationen in mehr als hundert
Staaten – kostet rund 3,8 Milliarden Euro[4], das
mach für jeden EU-Bürger etwa achteinhalb Euro pro Jahr. Das sind drei Glas
Bier oder zwei Viertel Wein in der Kneipe. Für Abstinenzler: vier Gläser
Apfelsaft. Zu teuer?
Dabei ist zu berücksichtigen,
welch riesiges Feld an Aufgaben die Kommission zu bewältigen hat. Sie ist „Hüterin
der Verträge“, das heißt, sie muss überwachen, ob die im Lissabon-Vertrag von
Mitgliedstaaten geforderten Verpflichtungen eingehalten werden, sie stellt den
jährlichen Haushaltsplan der EU auf und verwaltet die Einnahmen und Ausgaben
der EU (ist also die Exekutive der EU), sie muss den gesetzgebenden Organen der
EU, also dem EP und dem Rat, Entwürfe für alles vorlegen, was dann EU-Gesetz
werden soll, sie beschäftigt den Auswärtigen Dienst der EU einschließlich der
Delegationen (Botschaften) in 140 Drittstaaten in aller Welt, sie wird vom Rat
ermächtigt, Abkommen mit Drittstaaten abzuschließen. Eine Fülle von Aufgaben
also.
Und doch ist in einem Punkt
Kritik an der Größe der Kommission berechtigt. Sie hat 27 Mitglieder, also Kommissare.
Jeder ist für einen bestimmten Bereich der Politik zuständig, vergleichbar etwa
den Ministern in Mitgliedstaaten. Die Größe der Kommission, also die Anzahl an
Kommissaren, ist mit jedem neuen Beitritt von Staaten gewachsen, weil jeder
Mitgliedstaat Anspruch auf einen Kommissar hat[5].
Jeder vernünftige Mensch muss einräumen, dass diese Anzahl zu groß ist. Aber
die Größe der Kommission wurde und wird in den jeweils gültigen Verträgen
festgelegt, zurzeit im Lissabon-Vertrag (siehe Fußnote 5). Und diese Verträge
können nur einstimmig geändert werden, also wenn jeder EU-Staat zustimmt, auch
die kleinsten wie Luxemburg oder Malta. Und kein neuer, der EU beitretender
Staat wird freiwillig darauf verzichten, in Brüssel durch den
prestigeträchtigen Posten eines EU-Kommissars vertreten zu sein, obwohl die
Kommission ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit ausüben muss[6]. Es
darf eigentlich keinen deutschen oder belgischen Kommissar geben, und doch legt
jeder Staat großen und unantastbaren Wert darauf, einen eigenen Kommissar benennen
zu dürfen. So kommt es, dass die augenblicklich arbeitende Kommission nicht nur
Kommissare für so große Bereiche wie Landwirtschaft, Umwelt, Energie hat,
sondern auch für weniger umfassende wie Gleichstellung.
[1] Der Begriff „Menge“ ist
hier nicht abwertend zu verstehen
[2] Personenbestand laut
Gesamthaushaltsplan 2020
[3] Gemäß Art. 55 EUV
[4] Laut Gesamthaushaltsplan
2023, Titel 20
[5] Art. 17 Abs. 4 EUV
[6] Art. 17 Abs. 3 EUV