Die EU verstehen (Fortsetzung)
Die
Angst der Staaten vor dem Machtverlust
oder:
Wer hat das Initiativrecht und warum
Eine häufig
geäußerte Kritik an der Europäischen Kommission (vereinfacht und leicht
verächtlich oft auf „Brüssel“ reduziert), lautet: Sie reißt immer mehr Macht an
sich, sie entmachtet schleichend und fortwährend die Mitgliedstaaten, sie
schreibt allen Bürgern alles vor, selbst Kleinigkeiten. Berüchtigtes Beispiel
dafür ist der Krümmungsgrad der Gurke (auf den wir gleich noch zu sprechen
kommen).
Eigentlich wäre
es ganz einfach, diese Kritik zu entkräften, man müsste nur auf den Vertrag
über die Arbeitsweise der Europäischen Union (abgekürzt AEUV) verweisen, wo
genau beschrieben ist, was die EU tun muss und was sie nicht darf[1]. Leute, die diesen Vertrag nicht kennen,
sind oft erstaunt, wenn sie erfahren, dass die EU nur in wenigen
Politikbereichen ganz allein zu entscheiden hat. Dies sind: Zollunion,
Handelspolitik, Wettbewerbsregeln im Binnenmarkt, Währungspolitik für die
Euro-Staaten und Erhaltung der biologischen Meeresschätze. Hinzu kommt noch der
Abschluss internationaler Abkommen, zum Beispiel in der Handelspolitik. Das
war’s, oder? Nun ja, in der EU ist eben alles ein bisschen anders als in einem
Staat, und deshalb müssen wir etwas erläutern., was im AEUV steht.
Die EU ist
nicht zuständig für die Wirtschaftspolitik (zumindest nicht direkt), für
Bildung in Schulen und Berufsschulen, für Forschung (zumindest ganz allgemein,
nicht speziell), Arbeit, Sozialpolitik (eine ganz heikle Sache), Industrie,
Kultur, Sport, Jugend, Gesundheit (in den Mitgliedstaaten), Tourismus,
Katastrophenschutz (nur, wenn die Katastrophe in einem Mitgliedstaat passiert,
und auch das stimmt nicht ganz) und Zusammenarbeit der Verwaltungen. Eine
überraschend große Menge an Politikbereichen also, in denen die EU nichts (na
ja, nicht alles) zu entscheiden hat. Die EU darf die Politik der
Mitgliedstaaten unterstützen oder fördern oder koordinieren.
Es bleiben
freilich genügend Politikbereiche, in denen die EU ihre Zuständigkeit mit den
Mitgliedstaaten teilt: Landwirtschaft und Fischerei, Binnenmarkt, Umwelt, Verbraucherschutz,
Verkehr und transeuropäische Netzte, Energie, ein bisschen Sozialpolitik, Asyl,
Grenzkontrollen, Einwanderung. In diesen Bereichen kann die EU tatsächlich
Kompetenzen an sich reißen, denn im AEUV heißt es dazu: „Die Mitgliedstaaten
nehmen ihre Zuständigkeit wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit
nicht ausgeübt hat.“ Das öffnet findigen Köpfen in Brüssel natürlich Tür und
Tor für Versuche, einmal auszuprobieren, ob die Mitgliedstaaten aufschreien,
wenn „Brüssel“ mal wieder einen Versuchsballon startet.
Die
Möglichkeit hierfür wird durch eine Eigenart in der Gesetzgebung der EU geboten
(mal wieder ist etwas anders als in den Staaten, aber etwas Entscheidendes).
Alle europäischen Gesetze werden zwar vom Rat der nationalen Minister und vom
Europäischen Parlament gemeinsam erlassen, wie es sich für eine Demokratie
gehört[2], aber diese beiden Gesetzgeber in der EU
dürfen keine Entwürfe für Gesetze ausarbeiten. Dieses Recht, das Initiativrecht,
hat in der EU allein die Kommission, die aber wiederum nicht darüber
entscheiden darf, ob aus ihren Entwürfen Gesetze werden. Das ist eine der
Eigenheiten der EU, die sie von Anfang an und bis heute von einem Staat
unterscheidet.
Warum ist das
so? Nun, die Persönlichkeiten, die nach dem Weltkrieg an der Gründung der
europäischen Gemeinschaft beteiligt waren, hatten ein feines Gespür dafür, wie
sie die Machtbefugnisse in den supranationalen[3] Organen Rat, Parlament und Kommission
verteilen mussten, damit dieses in der Weltgeschichte bisher einmalige
Experiment gelingen konnte – wir dürfen nicht vergessen: Es ist bis heute ein
Experiment, das gut ausgehen, aber ebenso noch scheitern kann. Im Rat sind die
Regierungen der Mitgliedstaaten durch Regierungsmitglieder (Minister)
vertreten, sie sollen zwar „europäisch“ handeln, es liegt aber in der Natur des
Menschen, dass die Ratsmitglieder auch ihre nationalen Interessen im Kopf
haben, wenn es um europäische Gesetze geht (sie und ihre Partei sollen ja wiedergewählt
werden). Damit sie gar nicht erst in diese Versuchung geraten, haben die
Gründer entschieden, dass eine neutrale Instanz, eben die Kommission, allein
befugt ist, Entwürfe für Gesetze zu formulieren und vorzulegen, aber
andererseits nicht darüber entscheiden darf, ob daraus Gesetze werden. Die
Gesetzgebung in der EU ist Sache anderer Organe, und am Anfang der europäischen
Gemeinschaft waren es allein die Regierungen der Mitgliedstaaten, die sich
dieses Recht vorbehielten. Die Sache ist ja so: Alles, was die EU tun darf und
tun muss, wird ihr von den Mitgliedstaaten erlaubt, die hierfür untereinander
einen völkerrechtlichen Vertrag schließen. Ganz am Anfang haben die Regierungen
der Mitgliedstaaten bestimmt, dass nur sie gemeinsam Gesetze erlassen dürfen,
und zwar in den ersten acht bis zwölf Jahren nach der Gründung 1958 nur
einstimmig. So war garantiert, dass keine Regierung überstimmt werden konnte.
Erst nach und nach erlaubten die Mitgliedstaaten dem Rat Mehrheitsbeschlüsse[4], und sie mussten dafür jedes Mal den
Gründungsvertrag ändern, einstimmig natürlich. Erst seit der letzten Änderung
durch den Lissabon-Vertrag[5] sind Rat und EP gemeinsam gleichberechtigte
Gesetzgeber in der EU.
Aber zurück
zur Kommission und ihrem Recht, dem Initiativrecht, alle Entwürfe für Gesetze
zu formulieren und zum Beschluss durch Rat und EP vorzulegen[6]. Es gibt in der Kommission 27 Kommissare,
jeder Mitgliedstaat darf einen nach Brüssel schicken. Mit jeder Erweiterung der
EU um neue Mitglieder (von anfangs sechs auf heute 27) wuchs die Anzahl der
Kommissare. Es sind heute natürlich viel zu viele, jeder Verantwortliche weiß
das, aber dies können die Regierungen der Mitgliedstaaten nur einstimmig
ändern, es müssen alle 27 Staaten zustimmen, auch die kleinsten wie Malta mit
einer halben Million Einwohnern – man kann sich denken, warum die Größe der
Kommission nicht zu ändern ist. Jeder Kommissar, also jedes Mitglied der
Kommission hat einen Politikbereich zu bearbeiten, ähnlich wie die Aufteilung
der Ministerien in der Regierung eines Staates. Es liegt auf der Hand, dass die
Politikbereiche mit jeder Vergrößerung der Anzahl von Mitgliedstaaten immer
mehr zergliedert und aufgeteilt werden mussten, damit jedem Kommissariat ein
halbwegs vertretbares Minimum an Entscheidungsbereich verblieben ist. Es
leuchtet jedem ein, dass Generaldirektionen wie Landwirtschaft oder Umwelt
einen anderen Stellenwert haben wie etwa Unterstützung von Strukturreformen.
Nun will natürlich jedes Mitglied der Kommission seine Existenzberechtigung
beweisen – nach außen und für die Einwohner seines Heimatstaates. Und so werden
fleißig Gesetzentwürfe produziert, die allesamt von gewisser, aber doch
unterschiedlicher Bedeutung sind. Ein besonders auffälliges Ressort ist der
Verbraucherschutz. Dieses Kommissariat hat sehr wichtige und für alle EU-Bürger
wohltuende Gesetzes-Vorschläge ausgearbeitet, die zu Gesetzen
wurden[7]. Aber es hat eben auch die berüchtigten
Verordnungen zum Krümmungsgrad der Gurken oder zum Neigungswinkel von
Traktorsitzen[8] erlassen, denn in bestimmten
untergeordneten Bereichen der Politik erlauben es die EU-Verträge der
Kommission, Verordnungen direkt, also ohne korrigierende Mitwirkung von Rat und
EP zu erlassen. Zum Beispiel wird die Kommission in Gesetzen damit beauftragt,
untergeordnete Verwaltungsvorschriften den zeitlichen Veränderungen anzupassen.
Fazit: Die
Kommission kann aus eigener Macht den Mitgliedstaaten überhaupt keine
gesetzgeberischen Aufgaben entziehen, die Regierungen der meisten Staaten haben
viel zu viel Angst davor, dass „Brüssel“ zu mächtig werden könnte, und sie
haben es ja selbst in der Hand, dies zu verhindern. Es ist freilich beschämend
für eine Reihe von Ministern in den Hauptstädten der Mitgliedstaaten, dass sie
scheinheilig in den Chor der Kritiker einstimmen, wenn Medien, mächtige
Verbände oder die Opposition mal wieder lautstark über eine Entscheidung aus
„Brüssel“ herfallen. Letzten Endes sind es immer noch die Regierungsmitglieder
aus Berlin, Prag oder Madrid, die alle Vorschläge der Kommission ändern, bevor
daraus Gesetze werden, gemeinsam mit dem Europäischen Parlament, das oft genug
das Schlimmste aus Vorschlägen der Kommission oder Änderungswünschen der
Staaten verhindert hat.
Freilich, die
Sache mit dem Initiativrecht bleibt etwas, das irgendwann geändert werden muss,
aber bedenken Sie bitte immer: Kritik daran äußern heute vor allem diejenigen,
die eigentlich die ganze Europäische Union wieder abschaffen wollen. In der
Sache Initiativrecht haben sie etwas in der Hand, was den nicht so gut
Informierten auf Anhieb einleuchtet. „Demokratiedefizit“ ist eben ein
wirkungsvolles Schlagwort.
[1] Ab Artikel 2 AEUV sind Arten und Bereiche der
Zuständigkeiten der Union genau festgelegt. In Artikel 2 heißt es: „Übertragen
die Verträge der Union für einen bestimmten Bereich eine ausschließliche
Zuständigkeit, so kann nur die Union
gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen; die
Mitgliedstaaten dürfen in einem solchen Fall nur tätig werden, wenn sie von der
Union hierzu ermächtigt werden, oder um Rechtsakte der Union durchzuführen.“
[2] Diese Aussage stimmt nicht ganz. In demokratischen
Staaten ist in der Regel das Parlament der alleinige Gesetzgeber, aber die EU
ist nun mal kein Staat, sondern ein eigenartiges und in der Welt einzigartiges
politisches Gebilde (siehe die Einleitung zu dieser Reihe: Was ist das
eigentlich, die EU?
[3] Was supranational bedeutet, wird in Teil 2 dieser
Reihe erklärt: Was heißt Supranationalität?
[4] Was ihnen ziemlich schwerfiel, siehe Teil 1, Beispiel
1: Die Politik des leeren Stuhls
[5] In Kraft seit 1. Dezember 2009
[6] In der Sprache der EU-Verträge heißen diese
Gesetzentwürfe Vorschläge, was deutlich macht, dass sie von den gesetzgebenden
Organen auch abgelehnt oder zumindest stark verändert werden können.
[7] Aus Vorschlägen des Kommissariats Verbraucherschutz
sind zahlreiche Gesetze entstanden, die für Verbraucher von großem Vorteil
sind, z. B. zum Verbot schädlicher Stoffe in Kleidung und Lebensmitteln, zur
Kennzeichnung von Inhaltsstoffen in Lebensmitteln, zum Schutz von Reisenden bei
Verspätungen, zum Schutz von Menschen mit Behinderungen
[8] Ausführlich dargestellt in Beispiel 3 zur
Subsidiarität: Wie krumm muss eine Gurke, wie schief darf ein Traktorsitz sein?
Beispiele zur
Subsidiarität
1) Die Angst der Nationen vor dem Machtverlust
2) Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass (folgt)
Fazit Subsidiarität (folgt)