Teil 1
Was ist Souveränität ?
Ein Staat ist souverän, wenn er seine Politik im Innern und nach außen ohne Einschränkung durch andere bestimmen kann.
Unter den Herrschenden in Europa und ebenso unter Professoren für Staatsrecht war lange Zeit die Ansicht verbreitet, die Souveränität eines Staates sei unteilbar und unantastbar. Jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates ist völkerrechtlich auch heute noch grundsätzlich untersagt1. Wer dieses Gebot verletzt, musste einst mit einer Kriegserklärung rechnen. Man darf nicht vergessen: Heute sind Kriege völkerrechtlich grundsätzlich verboten2, aber bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts erlaubte das Völkerrecht jedem Herrscher in Europa, einem anderen den Krieg zu erklären, wenn er sich in seiner Souveränität verletzt fühlte (ius ad bellum3). Im „alten“ Europa konnte die Souveränität eines Staates demnach nur eingeschränkt oder aufgehoben werden, wenn er im Krieg besiegt worden war.
Die bittere historische Erfahrung, dass nur besiegten Staaten die Souveränität genommen werden konnte, dass also Einschränkung oder Verlust von Souveränität stets mit Niederlage und Fremdherrschaft verbunden war, muss wohl wie ein Erbgut von Herrscher zu Herrscher weitergegeben worden sein und noch heute in unserer republikanischen Zeit nachwirken. Anders ist nicht zu verstehen, warum Vieles in der europäischen Integration der letzten 60 Jahre schiefgelaufen ist.
Wenn zwei oder mehrere Regierungen eine Zusammenarbeit ihrer Staaten vereinbaren und die Einzelheiten in einem völkerrechtlichen Vertrag festlegen, dann wird darin in der Regel vereinbart, dass wichtige Beschlüsse einstimmig gefasst werden müssen. Jeder Staat, der an der Zusammenarbeit teilnimmt, hat das Recht, einen Beschluss zu verhindern, der ihm nicht passt. Dieses Vetorecht4 gewährleistet die Souveränität jedes Staates, weil ihm nicht von anderen Staaten ein Handeln aufgezwungen werden kann, er also frei bleibt in seinen Entscheidungen im Innern und nach außen.
Ein Weltkrieg reichte Europas Herrschern nicht, um aus Schaden klug zu werden. Gebrannter König scheut das Kanonenfeuer noch lange nicht. Es musste ein zweiter Weltkrieg kommen, um zu der Einsicht zu führen, dass ein Beharren auf unteilbarer und unantastbarer Souveränität aller Staaten niemals den dauerhaften Frieden bringen kann. Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren Regierende in Europa bereit, eine Staatengemeinschaft zu bilden und dabei freiwillig Hoheitsrechte zu teilen, sie gemeinsam auszuüben, also der Einschränkung ihrer Souveränität zuzustimmen.
Was viele Europäer an „Europa“ verzweifeln lässt, ist nicht der Prozess der Vereinigung europäischer Staaten zu einer Union, sondern die oft unverständlichen und abstoßenden Umstände, die diesen Prozess begleiten. Viele halten diese negativen Begleiterscheinungen für das Ergebnis der Vereinigung, nicht für vorübergehende Nebenerscheinungen. Sind diese hässlichen Seiten der Integration systemimmanent, also unvermeidlich?
Das Besondere der EU, das weltweit Einmalige ist ihre gemeinsame Politik mit Mehrheitsbeschlüssen. Gemeinsam heißt: Alle Mitgliedstaaten, ob groß wie Deutschland oder klein wie Malta, sind an den Beschlüssen beteiligt. Mehrheitsentscheidung aber bedeutet, dass ein Beschluss auch dann für alle verbindlich ist, wenn nicht alle zugestimmt haben. Ein Mitgliedstaat muss also unter Umständen etwas tun, was er nicht wollte. Warum sind Staaten dazu bereit? Weil die Nachteile des Machtverlusts einen sonst nicht erreichbaren Vorteil bringen können.
Anderen Regierungen ein Mitentscheidungsrecht in inneren Angelegenheiten einzuräumen, fällt auch demokratisch gewählten Ministerpräsidenten und Kanzlern nicht leicht. Die Gründer der Europäischen Gemeinschaften5 mussten deshalb erhebliche Rücksicht nehmen auf die tief verwurzelte Furcht der Regierungschefs und der Parlamente vor Souveränitätsverlust. Im Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957 wurde deshalb vereinbart, dass alle wichtigen Beschlüsse in den ersten acht bis zwölf Jahren6 einstimmig7i gefasst werden mussten. Jeder der sechs Gründerstaaten8 sollte lernen, dass Regierungen durchaus lautere Absichten haben konnten, wenn sie etwas wollten, was von den Vorstellungen der anderen abweicht. Erst nach dieser langen Übergangs- und Übungszeit sollten Mehrheitsbeschlüsse möglich sein, und das zunächst auch nicht in Politikbereichen, die zum Unberührbaren der Staaten zählten wie Innen-, Finanz- oder Außenpolitik. In der Gemeinsamen Agrarpolitik war dieser Übergang für Anfang 19669 vorgesehen. Er ging gründlich schief.
Was damals geschah, ist ein Lehrstück darüber, wie die Furcht vor Souveränitätsverlust den Verstand der Regierenden so trüben kann, dass sie wider alle Vernunft handeln. Die „Politik des leeren Stuhls“ führte 1965 zur ersten schweren Krise der Gemeinschaft, zum Desaster von einem Ausmaß, das bis heute nachwirkt. Wer dieses „Strickmuster“ des Taktierens und Paktierens der Politik einmal durchschaut hat, kann Verständnis dafür entwickeln, dass es auch heute noch Jahre dauern kann, bis ein einziger weiterer Schritt auf ein Ziel, das von allen als notwendig und vernünftig gepriesen wird, vollendet werden kann.
An einigen Beispielen sei erläutert, wie schwer es mitunter den Regierenden in den Mitgliedstaaten der EU gefallen ist und heute noch fällt, das zu verwirklichen, was die Gründungsverträge von ihnen verlangt haben: Verzicht auf Souveränität.
1 Wichtigstes Dokument des Völkerrechts von heute ist die Charta der Vereineten Nationen. Dort heißt es in Artikel 2, Absatz 7: „Aus dieser Charta kann eine Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, oder eine Verpflichtung der Mitglieder, solche Angelegenheiten einer Regelung auf Grund dieser Charta zu unterwerfen, nicht abgeleitet werden.“ Abweichend davon wird in letzter Zeit darüber diskutiert, ob es nicht sogar eine Pflicht zur Einmischung gebe, wenn in einem Staat Menschenrechte eklatant verletzt werden
2 Der Briand-Kellog-Pakt von 1928, ein völkerrechtlicher Vertrag, verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, den Krieg nicht als Mittel ihrer Politik zu verwenden, sondern Streitigkeiten friedlich zu lösen. Der Pakt ächtet insbesondere den Angriffskrieg. In der Charta der Vereinten Nationen von 1945 wird nicht nur die Anwendung von Gewalt unter Staaten verboten, sondern bereits die Androhung
3 ius ad bellum = Recht zum Krieg
4 Von lat. veto = ich verbiete
5 Zu nennen sind insbesondere die Franzosen Robert Schuman und Jean Monnet, der Deutsche Konrad Adenauer, der Italiener Alcide de Gasperi und der Belgier Paul Henri Spaak
6 Art. 8 EWGV
7 Z. B. Art. 42 Abs. 2, Art. 51, Art. 54 Abs. 2, Art. 63 Abs. 2 EWGV
8 Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande
9 Art. 43 Abs. 2 EWGV
Beispiele zum Thema Souveränität (biite auf gewünschten Titel klicken):
1) Die Politik des leeren Stuhls
2) Wie der Ort Ioannina berühmt wurde
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