Teil 4
Was heißt Supranationalität
Beispiel 1Ist die EU nicht demokratisch?
Die Europäische
Union gründet auf bestimmten Werten[1], einer
darunter ist Demokratie. Dies wird so ernstgenommen, dass der Rat[2] einen
Mitgliedstaat, der diese Werte schwerwiegend und anhaltend verletzt, bestrafen
kann, zum Beispiel durch Entzug des Stimmrechts im Rat[3]. Auch
die Arbeitsweise der EU beruht auf der repräsentativen Demokratie[4]. Staaten,
die der EU beitreten wollen, müssen deshalb eine demokratische Ordnung
aufweisen können[5].
Der EU wird
allerdings (und nicht nur von Gegnern) vorgeworfen, sie entspreche nicht ganz
dem, was von einer Demokratie verlangt wird[6], sie
leide an einem „Demokratiedefizit“. Böse Zungen behaupten polemisch, dieser
Mangel sei so erheblich, dass die EU sich selbst nicht beitreten könne.
Das Fatale ist,
dass sich Kritiker der EU bei solchen Vorwürfen scheinbar auf Fakten berufen
können, die sofort jedem einleuchten, der sich in dem Dschungel der Verträge
und Verordnungen der EU nicht genügend auskennt, um sie sofort entkräften zu können.
Mehr noch, häufig liegt den Vorwürfen ein zutreffender Kern zugrunde, der nicht
so einfach zu entkräften ist. Das liegt daran, dass die EU kein Staat ist[7], von
Kritikern aber mit der Rechtsordnung demokratischer Staaten verglichen und
daran gemessen wird. Wo liegt der entscheidende Unterschied?
In
demokratischen Staaten gilt das Prinzip der Gewaltenteilung, das heißt, eine
Institution darf die Gesetze erlassen, eine andere muss sie ausführen. Der
Erlass von Gesetzen ist Aufgabe der Legislative[8], also
der nationalen Parlamente als gesetzgebende Gewalt, die Ausführung obliegt der
Exekutive[9], das
ist die Regierung mit ihrer Verwaltung als ausführende Gewalt. Hinzukommt als
dritte Gewalt die unabhängige Rechtsprechung.
Der Vorwurf des
Demokratiedefizits beruht nun beispielsweise auf der Tatsache, dass in der EU
rechtskräftige Beschlüsse (Gesetze) vom Rat beschlossen werden, gemeinsam mit
dem Europäischen Parlament. Im Rat jedoch sind Minister der Mitgliedstaaten
vertreten, also Mitglieder der Exekutive, nicht der Legislative.
Ein Kritiker
der EU hat es leicht, wenn er in einer Versammlung von Menschen, die mit den
Besonderheiten der EU nicht vertraut sind, die Behauptung des
Demokratiedefizits aufstellt und sie (dem Publikum sofort einleuchtend) damit
begründet, dass Mitglieder der nationalen Exekutive die Gesetz erlassen, was in
einer Demokratie unzulässig ist, ja, eigentlich Merkmal von Diktaturen ist.
Warum bietet
die EU ihren Kritikern diese wunde Flanke? Weil es unzulässig ist, sie pauschal
mit der Verfassung von nationalen Staaten zu vergleichen. Dieser Umstand ist
historisch bedingt. Das Parlament in Straßburg hatte jahrzehntelang keine
gesetzgeberischen Befugnisse (siehe hierzu „Das EP, die
eigenartige Versammlung“). Solche Rechte werden ihm in den Verträgen
zugeteilt (zuletzt dem Lissabon-Vertrag, in Kraft seit 1. 12. 2009). Diese
Verträge und ihre jeweiligen Änderungen werden von den Mitgliedstaaten
einstimmig[10] beschlossen.
Eine andere
Besonderheit der EU ist, dass sie eigentlich keine Regierung hat, keine
richtige Exekutive. Alle in der EU erlassenen Gesetze werden von den
Verwaltungen der Mitgliedstaaten ausgeführt. Gemäß dem Lissabon-Vertrag dürfen
Gesetze in der EU jedoch nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden[11], sie
hat aber nicht das Recht, daraus Gesetze zu erlassen. Das wiederum ist (wie
oben erwähnt) Sache des EP und des Rates.
Wie lässt der
Vorwurf des Demokratiedefizits sich mit sachlichen Argumenten entkräften? Nun, allgemein
anerkannte Merkmale einer demokratischen Gesetzgebung sind:
– Legitimation
der gesetzgebenden Organe,
– Kontrolle
durch andere Organe,
– Transparenz
und
– Teilhabe der
Unionsbürger.
Alle vier
Forderungen werden von der Gesetzgebung in der EU hinreichend erfüllt.
– Legitimation:
Das EP als die Hälfte des EU-Gesetzgebers ist dadurch legitimiert, dass seine
Mitglieder seit 1979 von den Bürgern der Mitgliedstaaten direkt gewählt werden[12].
Die Mitglieder
des Rates sind Minister in Regierungen, die aus demokratischen Wahlen
hervorgegangen sind. Dass sie der jeweiligen Exekutive ihres Staates angehören,
ist der besonderen Konstruktion der EU zu danken, die einen noch nicht
abgeschlossenen Prozess der europäischen Integration auf neuer Stufe darstellt[13].
Die Mitglieder
der Kommission gelangen nur nach Zustimmung durch das EP in ihr Amt.
– Kontrolle: Eine
starke Rolle spielen hier die nationalen Parlamente. Ihre Aufgaben zur
Kontrolle der Arbeitsweise der EU sind im Anhang des Lissabon-Vertrages im
Protokoll Nr. 1 festgelegt: Die von der Kommission dem EP und Rat vorgelegten
Entwürfe von Gesetzgebungsakten[14]
werden den nationalen Parlamenten zur Kontrolle zugeleitet, und zwar direkt und
zeitgleich wie dem EP und dem Rat. Außerdem haben die nationalen Parlamente das
Recht zu prüfen, ob die EU in ihrer Arbeitsweise das Prinzip der Subsidiarität
beachtet (siehe hierzu auch: Subsidiarität – das schwere
S-Wort). Dies besagt, dass die EU in allen politischen Bereichen, die nicht
in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen[15], nur
tätig werden darf, sofern die Maßnahmen nicht von den Mitgliedstaaten auf
zentraler, regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden
können.
– Transparenz:
Artikel 15 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU fordert, dass „die Organe, Einrichtungen und sonstigen
Stellen der Union unter weitestgehender Beachtung des Grundsatzes der
Offenheit“ arbeiten müssen. Das EP tagt öffentlich, ebenso der Rat, wenn er
über die von der Kommission vorgelegten Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berät
und abstimmt. Außerdem hat jeder Bürger mit Wohnsitz in einem EU-Staat das
Recht auf weitgehenden Zugang zu Dokumenten der Organe, Einrichtungen und
sonstigen Stellen der Union[16].
– Teilhabe:
Jeder Unionsbürger besitzt das aktive und passive Wahlrecht zum EP. Wenn
Gesetze der EU einen Unionsbürger direkt und individuell betreffen, kann der
Bürger dagegen beim Europäischen Gerichtshof Klage erheben[17].
Jeder Unionsbürger kann eine Petition an das EP richten, wenn ein Tätigwerden
der EU ihn direkt betrifft[18]. Er kann sich ebenso an den
vom EP gewählten Europäischen Bürgerbeauftragten[19]
mit seiner Beschwerde wenden.
Fazit: Es ist zugegebenermaßen etwas
kompliziert, in einer öffentlichen Versammlung gegen den Vorwurf des
Demokratiedefizits mit sachlichen Gründen Stellung zu nehmen, aber es würde
sich lohnen.
Immerhin haben
die Regierungen der Mitgliedstaaten das Problem erkannt und sind entschlossen, Demokratie
und Effizienz in der Arbeit der Organe weiter zu stärken[20].
[1] EUV Art. 2: Achtung der
Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und
Wahrung der Menschenrechte
[2] mit der Mehrheit von vier
Fünfteln seiner Mitglieder
[3] Art. 7, Abs. 3 EUV, mit
qualifizierter Mehrheit
[4] Art. 10 Abs. 1 EUV
[5] Der Europäische Rat hat in
seiner Tagung im Juli 1993 in Kopenhagen die (politischen, wirtschaftlichen und
rechtlichen) Kriterien festgelegt, die ein Beitrittskandidat erfüllen muss. Das
politische Kriterium fordert stabile Institutionen als Garantie für die
demokratische Ordnung
[6] Eine demokratische Ordnung
muss bestimmte Voraussetzungen erfüllen, dazu zählen u. a.: Partizipation, das
heißt, alle Bürger müssen die Möglichkeit haben, an Entscheidungen des Staates rechtlich
festgelegte Formen der Teilhabe und Mitwirkung an Entscheidungen des Staates,
u. a. durch hinreichenden Zugang zu Informationen, durch Mitentscheidung
mittels freier Wahlen, durch das Recht, sich über Entscheidungen des Staates zu
beschweren und dafür Gehör zu finden
[7] Die EU im Jahre 2023 befindet
sich in einem Prozess der immer enger werdenden Union der Völker Europas
(Präambel des Lissabon-Vertrages)
[8] Legislative von lat. legis
latio = das Gesetz beschließen
[9] Exekutive nach lat.
exsequi = ausführen
[10] Art. 48 EUV
[11] EUV Art. 17, Abs. 2
[12] Art. 14 Abs. 3 EUV
[13] Satz 1 der Präambel des
EUV
[14] In Art. 2 dieses
Protokolls wird erläutert: Im Sinne dieses Protokolls bezeichnet „Entwurf eines
Gesetzgebungsakts“ die Vorschläge der Kommission, die Initiativen einer Gruppe
von Mitgliedstaaten, die Initiativen des Europäischen Parlaments, die Anträge
des Gerichtshofs, die Empfehlungen der Europäischen Zentralbank und die Anträge
der Europäischen Investitionsbank, die den Erlass eines Gesetzgebungsaktes zum
Ziel haben
[15] Nach Art. 3 AEUV sind
dies: a) Zollunion, b) Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts
erforderlichen Wettbewerbsregeln, c) Währungspolitik für die Mitgliedstaaten,
deren Währung der Euro ist,
d) Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen
der gemeinsamen Fischereipolitik, e) gemeinsame Handelspolitik. Die Union hat
ferner die ausschließliche Zuständigkeit für den Abschluss internationaler Übereinkünfte,
wenn der Abschluss einer solchen Übereinkunft in einem Gesetzgebungsakt der
Union vorgesehen ist, wenn er notwendig ist, damit sie ihre interne
Zuständigkeit ausüben kann, oder soweit er gemeinsame Regeln beeinträchtigen
oder deren Tragweite verändern könnte.
[16] Art. 15 Abs. 3 AEUV
[17] Art. 263 Abs. 4 AEUV
[18] Art. 227 AEUV
[19] Art. 228 AEUV
[20] Präambel des Lissabon-Vertrages.