Fazit 1: Souveränität
Das Wesentliche der Europäischen Union ist etwas, das vor hundert Jahren noch unvorstellbar war: Regierungen von Staaten verzichten freiwilligdarauf, ihre herkömmliche Macht allein auszuüben. Sie sind bereit, einige staatlichen Machtbefugnisse mit anderen Staaten zu teilen. Und das scheinbar Unmögliche kommt erst noch: Sie sind bereit zu Mehrheitsentscheidungen, das heißt, sie akzeptieren, dass eine Mehrheit von Staaten Entscheidungen trifft, die auch der Staat befolgen muss, der dazu Nein gesagt hat. Eigentlich kann so etwas nicht funktionieren – und es funktioniert in der EU doch an jedem Tag.
In der Spieltheorie wird die Frage gestellt, wie die Bereitschaft wachsen kann, eine ungleiche Behandlung zu akzeptieren. Eine Antwort heißt: Das Verfahren der Beschlussfassung muss als gerecht empfunden werden. Die zweite Antwort heißt: Der Verlust nach einem ungünstigen Beschluss muss sich durch Vorteile in anderen Beschlüssen ausgleichen. Das heißt: Die Erfahrung muss zeigen, dass nicht alle Mehrheitsbeschlüsse nachteilig sind, sondern dass sich im Laufe der Zeit Vorteile für jeden ergeben.
Im Laufe der Zeit heißt aber: Vielleicht erst nach der nächsten Wahl in einem Mitgliedstaat. Und dann kann die Regierung, die einen kurzfristig nachteiligen Beschluss der Gemeinschaft zu vertreten hat, deswegen bereits abgewählt sein. Bei Legislaturperioden von vier bis fünf Jahren und der Anzahl von 27 Mitgliedstaaten finden theoretisch in jedem Jahr sechs bis sieben Wahlen in Mitgliedstaaten statt, und das heißt: Alle zwei Monate kann eine der 27 Regierungen abgewählt werden, sie bangen gegen Ende ihrer Legislaturperiode um ihre Wiederwahl und vermeiden alles, was ihnen von den Wählern als negativ ausgelegt werden könnte – und Beschlüssse in der EU sind nun einmal besonders beliebte Angriffsziele der Opposition und der Medien.
Die demokratischen Verfassungen der EU-Staaten erweisen sich also als eine der größten Hemmschwellen in der Entwicklung der Europäischen Union zu einem demokratisch verfassten staatsähnlichen Gebilde, einem Bundesstaat. Ein böses Bonmot besagt, die EU könne in ihrer jetzigen Form nicht Mitglied der EU werden, weil sie die Voraussetzungen nicht erfülle, die für eine Mitgliedschaft erforderlich sind1. Klingt einleuchtend, ist aber zutiefst falsch und populistisch, denn die EU kann aus einem einfachen Grund die Bedingungen für einen Beitritt nicht erfüllen: sie ist kein Staat.
Der Vorwurf, die EU erlasse Gesetze in undemokratischer Form und ohne demokratische Legtimation durch Wahlen, klingt für viele berechtigt und träfe die EU, träfe er zu, am tiefsten. Aber er ist grundlegend falsch, weil er Äpfel mit Birnen vergleicht, nämlich Staaten, in denen eine Verfassung regelt, wie Gesetze entstehen, mit der EU, die keine Verfassung hat und in der ein Vertrag der Mitglidstaaten die Form der Gesetzgebung vorschreibt.
Es ist verräterisch, dass die Kritik, die EU handle undemokratisch, häufig von jenen geäußert wird, die eine Entwicklung der EU zu einem demokratisch verfassten Gebilde bisher verhindert haben.
1 Der Europäische Rat legte bei seiner Tagung im Juni 1993 folgende politischen Kriterien „als Voraussetzung für die Mitgliedschaft“ in der EU fest: Die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung muss durch stabile Institutionen ebenso garantiert sein wie die Wahrung der Menschenrechte und die Achtung von Minderheiten
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