Beispiel 2 zur Solidarität
Asyl
! Asyl ! – ein Trauerspiel ?
Oder:
Solidarität ist uns lieb, aber leider zu teuer
Es ist beschämend bis unerträglich, dass an den
Außengrenzen der EU[1] Tausende von Menschen ums
Leben kommen, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind, weil dort jahrelang Krieg
herrscht oder weil Protestierende verhaftet und gefoltert werden oder einfach
nur, weil sie ein besseres Leben haben möchten (auch das ist ein berechtigter
Grund zur Flucht aus der Heimat). An dieser Stelle sei nicht vertieft, wie
unterschiedlich die Reaktionen darauf von Menschen sind, die in Frieden und
Wohlstand in der EU leben, sie reichen von einem herzlichen Willkommen für
alle, die kommen wollen, bis zu unflätigen Beschimpfungen aller Flüchtlinge.
Hier sollen die Gründe erläutert werden, warum aus der EU aus Sicht der einen
eine „Festung Europa“ geworden ist, die mit brutaler Gewalt und gewissenlos
Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken lässt („das Boot ist voll“) und aus Sicht
anderer jeder Mensch aus Drittstaaten in der EU herzlich aufgenommen werden
sollte, weil unsere Bevölkerung schrumpft und wir dringend frisches Blut
brauchen.
Das Asylrecht und der ganze Komplex Einwanderung gehört
zu den Politikbereichen, in denen die Union ihre Zuständigkeit mit den
Mitgliedstaaten teilt. Der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (abgekürzt
AEUV) packt diesen ganzen Bereich in den wohlklingen Begriff „Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“[2].
Unter Freiheit versteht sich die Freiheit der EU-Bürger, alle Binnengrenzen
zwischen EU-Staaten ohne Kontrollen überschreiten zu dürfen, eine großartige
Errungenschaft der EU[3].
Unter Sicherheit versteht sich, dass die EU den Grenzübertritt von Menschen aus
Drittstaaten an ihren Außengrenzen wirksam überwacht. Das ist eine
selbstverständliches Recht jedes Staates zum Schutz seiner Bürger, zum Beispiel
vor Kriminalität von außen.
Die EU hat auf den Gebieten Asyl und Einwanderung bisher
noch keine oder nur wenige Bestimmungen erlassen, es gibt bis heute kein
EU-weit geltendes Asylrecht. Es ist ein heikles Thema, ein heißes Eisen. Einige
Regierungen von Mitgliedstaaten der EU bevorzugen ein liberales Asylrecht, wo
Menschen aus Drittstaaten großzügig ihr Wunsch auf Asyl gewährt wird, andere
Regierungen der EU-Staaten möchten am liebsten alle Außengrenzen dicht machen
und niemanden hereinlassen. Deshalb war es bisher noch nicht möglich, ein
gemeinsames Asylrecht zu schaffen, denn dazu müssen alle EU-Staaten einstimmig
zustimmen. Um die Lücke zu überbrücken, haben die EU-Staaten auf ein bewährtes
Mittel zurückgegriffen: Statt Verhandlungen über die Änderung der EU-Verträge
zu beginnen (was sehr lang dauern und zu Misserfolg führen kann), schließen sie
untereinander einen völkerrechtlichen Vertrag, dem dann jeder beitreten kann,
der es möchte. Und so haben die EU-Staaten im irischen Dublin einen Vertrag
geschlossen (Dublin I) und festgelegt, welcher Staat zuständig ist, wenn ein
Mensch von außen um Asyl bittet. Es ist ein sehr kompliziertes Verfahren und
wir ersparen uns die Einzelheiten, die mehrmals geändert wurden in Dublin II
und Dublin III. Entscheidender Punkt ist, dass immer derjenige EU-Staat
zuständig ist, in dem der Asylsuchende zuerst EU-Boden betreten hat. Mag sein,
dass alle EU-Staaten dies für vernünftig hielten, es stellte sich freilich
heraus, dass die meisten Asylsuchenden an der Südgrenze der EU, also an den
Mittelmeerstaaten ankommen. Also hängt nun die ganze Last der Überprüfung der
tausendfachen Asylanträge an Griechenland, Italien und Spanien. Und diese
Staaten (ohnehin nicht die reichsten in Europa) möchten verständlicherweise
entlastet werden, möchten das Dublin-System ändern oder fordern Geld. Die
Aussicht auf Erfolg ist gering.
Solidarität ist ein wichtiges Gut, sie zählt zu den
Grundwerten der EU[4], die EU fordert
Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten[5],
sie bekennt sich zum Grundsatz der internationalen Solidarität[6],
sie fordert Zusammenarbeit der EU-Staaten, um die politische Solidarität zu
stärken[7],
der EU-Vertrag fordert die Entwicklung einer EU-weit gültigen Asylpolitik[8],
er verlangt von den Mitgliedstaaten immer wieder einen „Geist der Solidarität“,
im AEUV ist gar eine Solidaritätsklausel eingebaut[9],
allerdings nur für den Fall von Naturkatastrophen und Terroranschlägen. Aber
Solidarität ist unter Umständen eben auch ein teures Gut im wahrsten
finanziellen Sinn, und so bleibt sie eine hehre Forderung in Sonntagsreden.
Zum Schutz ihrer Außengrenze hat die EU 2004 die Agentur
FRONTEX geschaffen. Sie soll die Schengen-Staaten davor schützen, dass Menschen
aus Drittstaaten unerkannt, also illegal in ihr Gebiet gelangen und dort dann
unkontrolliert alle Grenzen überschreiten und womöglich untertauchen können.
Das ist ein selbstverständliches Recht aller Staaten, denn sie müssen ihre
Bürger schützen. Nun kommt jedoch ein heikler Umstand hinzu: Hilfsbereite
Menschen aus der EU haben Schiffe gekauft und lassen sie im Mittelmeer allein
zu dem Grund umherfahren, hilflos im Wasser treibende Menschen vor dem
Ertrinken zu retten und sie in das EU-Gebiet zu bringen. Auch das ist ein
hochwohllöbliches Unterfangen, allerdings ist umstritten, ob dadurch nicht
gerade die Verbrecher unterstützt werden, die Asylsuchenden viel Geld abknöpfen
und ihnen versprechen, sie in die EU zu bringen, sie allerdings dann an der
afrikanischen Mittelmeerküste in untaugliche Kähne und Boote setzen und sie
ihrem Schicksal überlassen, wohl wissend, dass dort Schiffe fahren, die
Menschen retten.
Kleine Zwischenüberlegung. Nach internationalem Seerecht[10]
ist jedes Schiff, das auf hoher See fährt, verpflichtet, einen im Wasser
treibenden Menschen zu retten, auch wenn das Zeit und Geld kosten sollte.
Unterlässt ein Kapitän diese Hilfeleistung, wird er von einem Gericht
verurteilt. Es bleibt allerdings fraglich, ob diese Pflicht auch für Schiffe
gilt, die nicht auf Handelswegen unterwegs sind, sondern allein zum Zweck der
Menschenrettung in See gestochen sind. Vor allem ist zu unterscheiden zwischen
der Pflicht auf Rettung aus Seenot und dem Recht auf Einfahrt in einen Hafen.
Jeder Staat mit einer Meeresgrenze kann die Einfahrt eines Schiffes in einen
seiner Häfen verweigern, wenn er dafür Gründe benennen kann. Und so kam es
verschiedentlich zu Tragödien, wenn Schiffe mit geretteten Asylsuchenden
tagelang außerhalb der Schutzgrenzen vor Italien oder Malta auf See trieben und
nicht in einen Hafen einlaufen durften. Es ist verständlich, dass viele
Menschen, denen es im Paradies EU gut geht, am Abend vor dem Fernseher mit Wut
auf solche Ereignisse reagieren.
Aber zurück zum EU-Asylrecht. Nach dem AEUV muss die EU schrittweise
ein integriertes Grenzschutzsystem an den Außengrenzen einführen und dafür eine
gemeinsame Asylpolitik schaffen[11].
Gut gesagt und gut gedacht. Nur scheitert das eben daran, dass man die
unterschiedlichen Interessen der EU-Staaten nicht unter einen Hut bringen kann,
zumindest bisher nicht. Wie gesagt: Solidarität ist ein hehres Gut, aber auch ein
teures.
Das Fatale an der berechtigten Kritik vieler Menschen an
der Asylpolitik der EU ist nur, dass sie wie immer die EU als Ganzes für die
Missstände an den Außengrenzen und an dem Hickhack um das Asylrecht
verantwortlich macht und nicht, wie es tatsächlich richtig wäre, einige
Regierungen in EU-Staaten. Das ist ein Übel, mit dem die EU leben muss. Sie ist
der Sack, den man schlägt, weil man meint, er sei schuld, während der schuldige
Esel unentdeckt und unbestraft davonkommt.
[1]
Die gesamte EU ist 4,5 Millionen qkm groß (zum Vergleich: ganz Europa misst
10,2 Mio. qkm, die USA 9,8), das größte EU-Land ist Frankreich mit 644 Tausend
qkm, das kleinste ist Malta mit gerade mal 316 qkm
[2]
Im AEUV im Kapitel 2 ab Artikel 77
[3]
Die EU-Staaten haben untereinander im luxemburgischen Ort Schengen einen
völkerrechtlichen Vertrag geschlossen, in dem sie festgelegt haben, wie dieser
freie Grenzverkehr zu funktionieren hat. Er heißt Schengen-Vertrag und die EU
die EU-Staaten, die mitmachen, bilden den Schengenraum
[4]
Artikel 2 des Vertrags zur Gründung der EU (kurz EUV)
[5]
Artikel 3 EUV
[6]
Artikel 21 EUV
[7]
Artikel 27 EUV
[8]
Artikel 67 EUV
[9]
Titel VII ab Artikel 222
[10]
Es handelt sich u. a. um das Seerechtsübereinkommen der UNO von 1982 und das
Internationale Übereinkommen von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf
See, auch um das SOLAS-Übereinkommen, das auf den der Titanic zurückgeht.
[11]
Artikel 77 AEUV